Rhabarber, oft fälschlicherweise als Frucht betrachtet, ist botanisch gesehen ein Gemüse, dessen saure Stängel im Frühling die Küchensaison eröffnen. Mit seinem intensiven, säuerlichen Geschmack, der nach Erdbeere und Zitrone zugleich schmeckt, fordert Rhabarber stets eine süße Ergänzung heraus – meist in Form von Zucker oder süßen Früchten. Trotz seiner dominanten Säure hat Rhabarber es geschafft, sich von den Gärten Zentralasiens bis in die feinsten Dessertküchen Europas und Amerikas zu arbeiten, wo er in unzähligen Variationen gefeiert wird. Seine Vielseitigkeit macht ihn zur perfekten Zutat für rustikale Aufläufe ebenso wie für elegante Kreationen.
Hier stellen wir fünf herausragende Rhabarber-Desserts vor, die beweisen, wie die „Säure der Gärten“ weltweit auf einzigartige Weise verarbeitet wird.
1. Großbritannien: Rhubarb Crumble (Rhabarber-Streuselauflauf)
Der Rhubarb Crumble ist der unangefochtene Klassiker der britischen Hausmannskost. Er verkörpert die britische Vorliebe für einfache, tröstliche (Comfort Food) Desserts, die direkt aus dem Ofen serviert werden. Das Prinzip ist denkbar einfach: Die Rhabarberstücke werden leicht gezuckert in eine feuerfeste Form gegeben. Darüber kommt eine dicke, butterzarte Streuselschicht, hergestellt aus Mehl, Butter und Zucker (oft mit Haferflocken für den Biss). Der Crumble wird gebacken, bis die Streusel goldbraun und knusprig sind und der Rhabarber darunter weich und blubbernd. Serviert wird er traditionell warm mit einer großzügigen Menge Custard (einer dicken Vanillesauce) oder einem Klecks Vanilleeis. Die Säure des Rhabarbers und die Süße der Streusel und des Custard bilden ein perfektes, ausgewogenes Ganzes.
2. Skandinavien (Dänemark/Schweden): Rhabarbergrød (Rhabarber-Grütze)
In Skandinavien, wo die Sommer kurz und die kulinarischen Traditionen rustikal sind, wird Rhabarber oft zur Grütze verarbeitet. Der Rhabarbergrød ist ein einfaches, aber beliebtes Dessert oder sogar Frühstück. Hierfür werden Rhabarberstücke mit Zucker und etwas Wasser gekocht, bis sie zerfallen und eine dicke, leicht glänzende Konsistenz erreichen. Die Grütze wird anschließend abgekühlt und kalt serviert. Die Besonderheit liegt in der Begleitung: Typischerweise wird Rhabarbergrød mit kalter Milch, Sahne oder einer dickflüssigen Vanillecreme gereicht. Die kalte, saure Grütze und die cremige, süße Milch sind im Norden Europas ein fester Bestandteil der Frühjahrsküche, die Einfachheit und Frische zelebriert.
3. USA: Strawberry Rhubarb Pie (Erdbeer-Rhabarber-Kuchen)
Der Strawberry Rhubarb Pie ist in den USA, insbesondere im Mittleren Westen, ein kultiger Klassiker, der den Frühling einläutet. Das Dessert wurde populär, da die Rhabarberernte zeitlich mit der ersten Erdbeerernte zusammenfällt. Die Amerikaner lieben diesen Kuchen, weil er die optimale Balance schafft: Die Süße und Saftigkeit der Erdbeeren mildert die intensive Säure des Rhabarbers ab. Die Füllung, gebunden mit etwas Stärke oder Mehl, wird in eine dicke Teighülle aus Shortcrust Pastry (Mürbeteig) gebettet und oft mit einer dekorativen Gitterdecke versehen. Der gebackene Kuchen ist außen knusprig, innen warm, fruchtig und wird fast immer mit einer Kugel Vanille-Eiscreme serviert, die auf die warme Füllung schmilzt.
4. Deutschland (Rheinland/Sachsen): Rhabarber-Baiser-Kuchen
In der deutschen Backtradition ist der Rhabarber oft in klassischen Blechkuchen zu finden. Eine besonders beliebte Variante ist der Rhabarber-Baiser-Kuchen (manchmal auch Rhabarber-Brotkuchen genannt). Auf einem Mürbe- oder Hefeteigboden wird der gezuckerte Rhabarber verteilt. Nach dem Vorbacken wird der Kuchen mit einer dicken, süßen Schicht aus italienischem Baiser (Eischnee-Haube) bedeckt und kurz überbacken, bis das Baiser leicht gebräunt ist. Dieser Kuchen spielt virtuos mit den Texturen: der feuchte, saure Rhabarber, der weiche Boden und die leichte, knusprige Süße der Baiserhaube. Er ist ein perfektes Beispiel für die deutsche Kaffeetafel-Tradition.
5. Afghanistan/Iran: Rhubarb Stews and Compotes (Rhabarber-Eintöpfe und Kompotte)
Obwohl der Rhabarber seinen Ursprung in Zentralasien hat, wird er in der persischen und afghanischen Küche seltener als reines Dessert, sondern oft als saure Komponente in herzhaften Eintöpfen (Khoresh) oder als sehr saures Kompott (Rivas) verwendet. Wenn er als Dessert dient, wird er in einem einfachen Kompott gekocht, das stark gesüßt wird, um die extreme Säure zu bezwingen. Manchmal werden dem Kompott Rosenwasser oder Kardamom hinzugefügt, um ihm eine typisch orientalische, blumige Note zu verleihen. Die Verwendung ist hier subtiler, dient aber dazu, dem Gaumen nach einem reichen, fettigen Mahl eine frische, saure Erholung zu verschaffen.

